Rede Christian Höppner Festakt 40 Jahre DTKV Saar
Zwischen Event und Bildung - Musikpolitik im Musikland Deutschland
„Kunst ist schön, macht aber auch viel Arbeit“
Sehr geehrte Frau Ministerin, lieber Herr Ardelt, lieber Herr Duis, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, ich bin von der Lebendigkeit des DTKV Saar sehr beeindruckt. Sie stehen mit Ihrer Arbeit mitten im Leben. Ich bin deshalb auch so beeindruckt, weil Sie beides die fachliche und die gesellschaftspolitische Arbeit vereinen und leben. Es ist nicht selbstverständlich, dass man begriffen hat, und es auch praktiziert, dass Musikpolitik auch ein Stück Gesellschaftspolitik ist. Zu dem Jubiläum und zu dieser hervorragenden Arbeit spreche ich Ihnen auch im Namen des Deutschen Musikrates meine herzlichen Glückwünsche aus. (Beifall)
Frau Ministerin, Sie haben für die erfolgreiche Arbeit im Bildungsbereich eine conditio sine qua non genannt, nämlich die Verzahnung von Bildung, Familie und außerschulischen Bildungseinrichtungen. Ich bin sehr froh über diese Botschaft, denn Sie haben einen Qualitätsmaßstab für diese Arbeit beschrieben, der beileibe noch nicht überall erfüllt ist. Der Deutsche Musikrat hat im Jahr 2004 in Königsstein einen Kongress zum Thema Musik in der Ganztagsschule durchgeführt. Wir wissen, dass dieses Thema auch heute noch mit vielen Schwierigkeiten, teilweise auch mit heftigen Emotionen verbunden ist. Aber wir kennen auch gute Beispiele, bei denen der Qualitätsanspruch, den Sie beschrieben haben, schon Wirklichkeit geworden ist bzw. auf dem Weg dahin ist; nämlich immer dann, wenn der Nachmittagsbereich nicht als Verwahrung der Kinder und Jugendlichen betrachtet, sondern als Chance für eine ganzheitliche Bildung gesehen wird und wenn die Partnerschaft mit den außerschulischen Kultur- und Bildungsträgern auf Augenhöhe erfolgt. Das heißt, wenn auch die Zusammenarbeit konzeptionell gemeinsam angegangen wird, dann hat dieses neue System, das nach Einschätzungen des Deutschen Musikrates auch unausweichlich ist, ganz große Chancen.
Ich freue mich sehr über dieses Signal, zumal das Saarland - lieber Bernhard Fromkorth - auf dem Vormarsch ist, wenn ich z. Bsp. an Jugend musiziert im kommenden Jahr und auch daran denke, dass Sie, Frau Ministerin, demnächst die KMK-Präsidentschaft übernehmen. Ich vermute - ich weiß es nicht mit Bestimmtheit, aber nachdem, was ich gehört habe dass Sie sich als ehemalige Innenministerin mit Ihrem ehemaligen Kollegen Otto Schily darüber einig sind, dass derjenige, der Musikschulen schließt, die Innere Sicherheit gefährdet. (Beifall)
Meine Damen und Herren, der Eingangssatz „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit“ stammt natürlich von dem unvergesslichen Karl Valentin. Sie, Herr Ardelt, haben in den 40 Jahren mit Ihren Kolleginnen und Kollegen sicher erfahren, was ehrenamtliches Engagement für unsere Gesellschaft bedeutet und auch, welche Mühsal dahinter steht.
Wenn Sie mit mir auf eine Ballonfahrt von Nord nach Süd und von West nach Ost über die bundesdeutsche Bildungs- und Kulturlandschaft gehen, dann werden Sie aus der Höhe ganz viel Grün sehen. Sie werden ein paar blinkende Leuchttürme sehen. Wenn Sie dann etwas tiefer mit dem Korb gehen, dann sehen Sie noch mehr Grün: Sie sehen, dass es eine reiche kulturelle Infrastruktur gibt, nämlich die Laienmusik mit über sieben Millionen musizierenden Menschen die einen ganz entscheidenden Bestandteil unseres Kulturlebens bildet. Wenn Sie dann jedoch noch tiefer gehen, dann entdecken Sie so manch verdorrte Wurzel. Bundestagspräsident Norbert Lammert bezeichnet das, was wir da sehen würden, als den lausigen Zustand der Kulturellen Bildung. Das ist von ihm nicht nur einmal, sondern wiederholt gesagt worden, zuletzt beim Forum Musikalische Bildung in Berlin im Januar dieses Jahres. Er sagt das mit Vehemenz, unterfüttert das auch und huldigt damit nicht etwa einer Klagemauer, sondern versucht damit wachzurütteln, so dass erkannt wird, dass beileibe noch nicht alles in unserem Land in Ordnung ist. In der Grundtendenz ist es leider noch immer so, dass in der allgemein bildenden Schule zu viel Musikunterricht ausfällt. Musikunterricht wird gerade da, wo es ganz entscheidend wäre, nämlich in der Grund-, Haupt- und an der Realschule, sehr selten bis gar nicht, oder wie oftmals an der Grundschule, auch fachfremd erteilt. Wir wissen, dass die Orchester in unserem Land teilweise heftig kämpfen müssen ich denke dabei z.B. an die Situation in Thüringen, wo nur der geballte Protest Schlimmeres verhindert hat. Zum Glück hat der Ministerpräsident hier auch eingegriffen und seinen Minister gebremst nichtsdestotrotz ist das, was da in Thüringen passiert ist, ein schlimmes Zeichen. Meine Damen und Herren, knapp Hunderttausend Kinder und Jugendliche stehen auf den Wartelisten der bundesdeutschen Musikschulen das ist ein gesellschaftspolitischer Skandal. (Beifall) Es tut also Not, Bewusstsein für die Welt der Kreativität zu wecken. Diese Arbeit, Bewusstsein zu schaffen, lohnt sich. Johannes Rau hat sich als Bundespräsident an vielen Stellen sehr engagiert zum Thema Musikalische Bildung geäußert. Für ihn war es eine Herzensangelegenheit so wie für Norbert Lammert.
Der Deutsche Musikrat hat nach seiner überstandenen Krise im Jahr 2003 einen Paradigmenwechsel vollzogen und sich viel musikpolitischer als früher aufgestellt. Der Deutsche Musikrat ist nicht irgendein schwebender Dachverband, sondern er repräsentiert die Interessen von über 8 Millionen musizierenden Menschen in unserem Land. Der DTKV Saar ist ein Teil davon. Wir haben auch einige Erfolge bei der Bewusstseinsveränderung bemerken dürfen. Die beiden Berliner Appelle, die sich intensiv mit dem Thema Musikalische und Kulturelle Bildung befassen, sind inzwischen zu einer Berufungsgrundlage und einem politischen Handlungsinstrument geworden. Der zweite Berliner Appell, der sich insbesondere dem Thema transkultureller Dialog widmet, ist von über 400 Erstunterzeichnern, darunter auch von zwei Bundespräsidenten, mit unterstützt worden. Es gibt also Erfolge. Diese werden allein sichtbar, wenn wir uns anschauen, was die Orchester inzwischen im Bereich der Musikvermittlung tun. Es gibt auch Initiativen wie Jedem Kind ein Instrument in Nordrhein-Westfalen, wobei man hier jedoch auch kritisch fragen muss, was nach 2010 passiert. Wir wissen, dass das Projekt zu großen Teilen von der Bundeskulturstiftung und dem Land NRW finanziert wird und wir wissen auch, dass das Ganze auf die Kulturhauptstadt 2010 hinausläuft. Nach 2010 wird die Bundskulturstiftung das Projekt nicht mehr fördern. Nach den bisherigen Aussagen wird die Landesregierung die Finanzierung dann voll übernehmen, aber man muss natürlich sehr genau hinschauen, mit welcher Qualität und in welcher Breite dieser Anspruch, der ja nur zu begrüßen ist, dann erreicht werden kann. Der Deutsche Musikrat hat im Gespräch mit dem Ministerpräsidenten Rüttgers vorgeschlagen, die Qualität noch mal anzuheben, indem die Initiative zu Jedem Kind SEIN Instrument umgewandelt wird. Das wäre ein weiterer Quantensprung in der Qualität der Ausbildung. Eine weitere Initiative ist die Initiative Musik, die vom ehemaligen Vorsitzenden des Haushaltsausschusses des Bundestages Steffen Kampeter und Staatsminister Bernd Neumann ins Leben gerufen wurde. Diese Initiative hat sich zum Ziel gesetzt, Integration, musikalische Bildung und den Musikexport zu fördern. Hier ist die Diskussion um die Initiative ebenso wertvoll wie die Initiative selbst, weil sie wiederum Bewusstsein für Felder, in denen wir aktiv werden müssen, geweckt hat. Sie kennen sicher alle die zahlreichen Vermittlungsprogramme, die die Orchester durchführen. Ich höre manchmal von den Orchestern auch schon den Vorwurf der Pädagogisierung ihrer Arbeit. Das ist sicher eine Gratwanderung, wenn Zuschüsse an die musikpädagogische Arbeit gebunden sind. Der politische Wille dahinter ist auch richtig so, denn die Orchester haben diese Verantwortung. Aber man muss die Balance zwischen dem Kerngeschäft, nämlich der künstlerischen Selbstäußerung von Musikern auf der Bühne, und der Musikvermittlung, wofür die Orchestermusiker ja nicht per se ausgebildet sind, wahren. Die Verantwortung, die die Orchester haben, muss auch sehr gut ausbalanciert werden. Ich will Ihnen eine kurze Geschichte erzählen, die ich selbst als Landesmusikratspräsident bei dem Educationprogramm der Berliner Philharmoniker erlebt habe: An diesem Projekt waren zwei junge türkische Jugendliche beteiligt, die aus sehr schwierigen sozialen Verhältnissen stammten. Sie kamen aus Marzahn und Hellersdorf, also aus zwei hinsichtlich ihrer Sozialstruktur schwierigen Bezirken in Berlin. Es ist durch glückliche Umstände und über viele Umwege gelungen, dass sie an dem Programm der Berliner Philharmoniker teilgenommen haben. Die beiden haben drei Monate durchgehalten. Wenn Sie sie nach diesen drei Monaten erlebt hätten, wie sie begeistert auf der Bühne standen und sich zu Simon Rattles Dirigat auf der Bühne bewegten, dann wäre es Ihnen auch kalt den Rücken heruntergelaufen, weil Sie gesehen hätten, was Musik alles bewegt und was mit Musik geschafft werden kann. Diese beiden Jugendlichen waren voll entflammt; der eine wollte E-Gitarre und der andere Gesangunterricht nehmen. Sie gehen also zu ihrer Musikschule, klopfen an und sagen, dass sie gerne Unterricht nehmen möchten. Und die Musikschule muss ihnen mitteilen: „Wir setzen euch gerne auf die Warteliste, in zwei Jahren können wir uns noch mal darüber unterhalten.“ Und das, nicht weil die Musikschule nicht will, sondern weil sie immer weiteren Kürzungen ausgesetzt ist. Das, meine Damen und Herren, ist kein Einzelfall, sondern das ist symptomatisch, wenn auch nicht im Saarland, aber in der bundesweiten Tendenz. Ich habe von den Wartelisten gesprochen. Und diese, meine Damen und Herren, sind auch für unsere Situation symptomatisch: Wir sitzen in einem Haus, das von außen schön aussieht; es werden immer neue Verzierungen angebaut, aber innen verfault allmählich die tragende Konstruktion. Das ist dem Umstand geschuldet, dass wir zu oft an die Hülle denken und zu wenig an den Inhalt.
Ich persönlich sehe das kritisch, wenn Sie z.B. an das Kleist-Theater in Frankfurt/Oder denken. Wir müssen aufpassen, meine Damen und Herren, dass wir keine Placeboeffekte schaffen; dass wir die Defizite, die es unbestritten im Bereich der musikalischen Bildung gerade von Kindern und Jugendlichen gibt, nicht durch Events im Kultur- und Bildungsbereich ersetzen. Es spricht nichts gegen Events, denn diese Initiativen und das Engagement der Orchester setzen ohne Frage Impulse, rütteln wach und schaffen Bewusstsein, aber es ist eben kein Ersatz für eine kontinuierliche und vor allem qualifizierte musikalische Bildung, die auf ein Leben lang angelegt ist.
Meine Damen und Herren, Musikpolitik ist im Vergleich zur Kulturpolitik ein vergleichsweise junger Begriff. Otto Schily stolperte bei seiner Laudatio auf Justus Frantz und die Philharmonie der Nationen 2005 plötzlich über das Wort Musikpolitik und es entfuhr ihm: „Was is dat denn“. Und dann fügte er beinahe entschuldigend hinzu, dass seine Beamten ihm das aufgeschrieben hätten. Das Thema Musikpolitik war bei ihm so noch nicht angekommen. Inzwischen sieht es Dank des musikpolitischen und gesellschaftlichen Engagements unserer Mitglieder schon etwas anders aus. Hauptaufgabe der Musikpolitik ist es, fachliche und gesellschaftspolitische Themen aufzugreifen. Wenn wir aktuell die Diskussion um Computerspiele verfolgen, kann es uns nicht egal sein, dass sechs Prozent der Computerspiele derzeit gewaltverherrlichende Inhalte haben; dass da detailliert beschrieben wird, wie jemand möglichst schmerzhaft und lange zu töten ist. Das ist etwas, wo auch wir als Musiker uns einmischen müssen. Auch das, was wir derzeit teilweise im Rapbereich erleben, müssen wir stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken. Ich denke nur mal an die Texte von Bushido, oder an Texte aus dem Bereich der rechtsradikalen Musik hier sind wir, und das sage ich selbstkritisch auch für den Deutschen Musikrat, noch zu leise. Man muss es zumindest gesellschaftlich thematisieren und auch skandalisieren. Natürlich können wir weder bei den Computerspielen noch in diesem Bereich nur über Verbote agieren. Wir wissen, dass wir bei dem technischen Fortschritt der Digitalisierung mit Verboten nicht viel bewirken können, dafür aber mit einer Ächtung. Der gesellschaftliche common sense muss ausgebaut werden und dabei tragen die Musik und wir alle miteinander auch eine Mitverantwortung. Diese Mitverantwortung ist auch die Grundlage der musikpolitischen Arbeit des Deutschen Musikrats. Wir haben einen Paradigmenwechsel vollzogen: Alles, was wir tun, tun wir in der Mitverantwortung für die Gesellschaft von heute und morgen. Das hat auch dazu geführt, und darüber bin ich sehr froh, dass die Mitgliederversammlung 2004 einstimmig beschlossen hat, das Konsensprinzip des Dachverbandes aufzugeben, denn es lässt einen Dachverband zu einer lahmen Ente werden, wenn man nur den kleinsten gemeinsamen Nenner als Handlungsgrundlage nehmen kann. Bei der heterogenen Mitgliederstruktur ergeben sich natürlicherweise in manchen Fragen auseinanderdriftende Interessenlagen wie zum Beispiel bei dem Gesetzgebungsprozess zum Urheberrecht Korb 2. Bei diesen sehr kontrovers und gleichsam emotional geführten Debatten ist es gelungen, dass der Deutsche Musikrat sich mit mehr als nur Allgemeinplätzen in den politischen Gestaltungsprozess hat einbringen können.
Das zweite Standbein der Musikpolitischen Arbeit ist es, Zusammenhänge aufzuzeigen. Ein Beispiel: Welthandelsorganisation und Kulturelle Vielfalt. Diese Zusammenhänge herzustellen ist schwer, aber das sehen wir auch als Aufgabe des Deutsche Musikrates. Wenn nämlich die Vorstellungen der WTO zur Liberalisierung des Welthandels ungebremst greifen würden, wäre Kultur nur ein Wirtschaftsgut eine Ware wie eine Tomatenbüchse oder ein Paar Schuhe. Dann wäre es um unsere kulturelle Vielfalt in unserem Land schlecht bestellt. Das hatte bereits Folgen bei der Europäischen Union: Erinnern wir uns z. Bsp. an das Stichwort Europäische Dienstleistungsrichtlinie, die auch diesen Wettbewerbsgedanken huldigt, und zwar ohne anzusehen, um was es geht. Und das ist genau der Punkt, denn Kultur ist natürlich im Sinne der Musikwirtschaft ein Wirtschaftsgut, aber sie ist eben auch und in erster Linie ein Kulturgut. Und wenn man dann den Zusammenhang zur Konvention Kulturelle Vielfalt herstellt, die glücklicherweise auch vom Deutschen Bundestag, und von vielen Ländern ratifiziert worden ist, so dass sie ein völkerrechtlich verbindliches Handlungsinstrument ist, dann haben wir unglaubliche Chancen. Der Klagemauer, die auch wir manchmal über die Situation anstimmen, stehen nämlich auch unglaublich viele Chancen gegenüber. Genauso wie bei dem Thema Ganztagsschule ist eben auch die Kulturelle Vielfalt ein Goldschatz, gerade in Deutschland mit seinen föderalen Strukturen. Ich bin ein glühender Föderalist, bekenne aber auch, dass sich manchmal in diese glühende Föderalismusbegeisterung Weißglut bei dem Thema Außendarstellung Deutschlands auf europäischer Ebene mit hineinmischt das erinnert in Teilen schon an Kleinstaaterei. Ich finde es nicht in Ordnung, dass der Kulturstaatsminister hier nicht weiter reichende Kompetenzen hat in einer Zeit, wo bereits jetzt immer mehr Entscheidungen auf Europäischer Ebene getroffen werden. Etwa 80% der Gesetzgebungsverfahren sind auf europäischer Ebene angesiedelt und die Entscheidungsprozesse laufen immer schneller.
Kultur entsteht immer vor Ort. Und da freue ich mich, dass wir den Landesmusikrat und den DTKV Saar und viele andere hier im Saal haben, so dass wir diese Themen im Interesse der Kinder und Jugendlichen aber nicht nur im Interesse derer, sondern im Interesse aller Menschen, die musizieren voranbringen.
Deutschland ist reich an Bodenschätzen, das wissen Sie. Das kulturelle Erbe gehört dazu, aber auch die so genannten Kreativpotentiale. Johannes Rau hat einmal gesagt: „Wir kennen von immer weniger den Wert, aber von immer mehr den Preis.“ Wer Rau kannte, der weiß, dass er das nicht resignativ in Form der Geiz-ist-geil-Mentalität gemeint hat. Im Gegenteil: Er hat das als Aufforderung verstanden wissen wollen, um Gegengewichte zur fortschreitenden Ökonomisierung zu setzen, und auch, um daran zu erinnern, dass es eine unserer Hauptaufgaben als musikpolitisch arbeitende Menschen ist, ein Bewusstsein für den Wert der Kreativität zu schaffen, denn Veränderung beginnt zuerst in den Köpfen.
Es ist an der Zeit zum Handeln. Wir müssen vor Ort ein Bewusstsein für die Bedeutung von Kultur und Bildung schaffen. Wir müssen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass jedes Kind, gleich welcher sozialen oder ethnischen Herkunft, den Anspruch auf den Zugang zur Welt der Musik hat. Man kann es auch mit dem Begriff Kulturelle Teilhabe übersetzen. Kein Kind kommt mit einer Vorliebe für irgendeine Stilrichtung auf die Welt. Wenn ein Kind, das auf die Welt kommt, die Chance hat, alles in Breite und Qualität wahrnehmen zu können, um dann selbst aus der Zeit der Erfahrung eigene Schwerpunkte entwickeln zu können, dann haben wir eigentlich alles getan, was in unserer Möglichkeit steht. Dann haben wir unsere Verantwortung wahrgenommen. Aber zu viel von dem, was wir kulturelles Erbe nennen, zu viel von dem, was Kinder selbst versuchen und ausprobieren wollen, enthalten wir ihnen vor. Es ist die frohe Botschaft, dass trotz der zunehmenden Virtualisierung unserer Lebenswelt oder vielleicht gerade deswegen ich verweise nur auf das Stichwort „second life“, wobei das Internet ein ganz realer Tagesbegleiter ist das Bedürfnis nach non-virtueller Betätigung, nach ganz praktischem Tun und damit auch nach Musikmachen, zunimmt. Das ist eine Chance und die Wartelisten für die Musikschulen sind ein Hilfeschrei, den wir nicht überhören dürfen.
Kulturelle Teilhabe geht ein Leben lang, von der Geburt bis zum Tod. Wir sagen, vielleicht etwas plakativ, musikalische Bildung beginnt neun Monate vor der Geburt. Damit meinen wir nicht die Eltern, die ich selbst als Musikschulleiter auch in meinen Sprechstunden erlebt habe, die im schwangeren Zustand zu mir kommen und sagen: „Wir wollen jetzt schon vorher was tun, denn wir haben gelesen, dass da die Synapsen wachsen und die Kinder schlau werden würden.“ Diese Eltern sitzen in einer Verwertungsfalle, die unserer Verwertungsgesellschaft geschuldet ist. Man kann nur versuchen, sie sanft auf einen anderen Weg zu bringen, nämlich auf den, dass Musik auch ein Wert an sich ist. Und so klar es ist, dass Musik instrumentalisiert und verwertet wird, so klar unterentwickelt ist auch das Prinzip des L’Art pour l’art in unserem Land. Wer das heute fordert, wird belächelt. Aber deshalb sollte man es trotzdem fordern.
„Wer das je eigene nicht kennt, kann das andere nicht erkennen.“ Das ist der Kernsatz des 2. Berliner Appells. Das ist ein Appell, Individualitäten zu fördern; es ist der Appell, jedem den Zugang zur Welt der Musik zu ermöglichen und es ist, auch vor dem Hintergrund unseres Bevölkerungs- und Strukturwandels und des demographischen Wandels, eine Herausforderung, die wir nur dann meistern können, wenn wir andere Kulturen nicht als Bedrohung, sondern als Reichtum in unserem Land empfinden. Und dieses Empfinden von Reichtum kann sich nur einstellen, wenn ich selber die Chance habe, meine Wurzeln jeden Tag zu gießen und zu pflegen, anstelle sie jeden Tag herauszureißen, um zu schauen, ob sie noch da ist. Musik muss wieder Hauptfach in unserem Denken und Handeln werden und in diesem Sinne möchte ich mit einem Zitat von Yehudi Menuhin schließen, weil es in vielfacher Hinsicht für unser musikpolitisches Handeln Maßstäbe aufzeigen kann. Er hat gesagt: „Die Musik spricht für sich allein, vorausgesetzt wir geben ihr eine Chance.“
Vielen Dank.